Die école vivante ist eine Schule, die von einem marokkanisch-deutschen Ehepaar im Tal von Ait Bouguemez gegründet wurde. Leider hatte ich während meines Besuches in der Region keine Möglichkeit gehabt, die beiden zu treffen. Dennoch möchte ich ihre Arbeit anhand dieses Interviews präsentieren (Französisches Interview: Amine LAQSIOUAR von Globatlax).
Übersetzung: Stefanie Zesiger
Wie kamen Sie auf die Idee, eine Grund-/Sekundarschule im Ait Bouguemez zu gründen?
Die Idee kam aufgrund der Situation in den öffentlichen Schulen hier und war die Antwort auf die Frage, wie wir unsere eigenen Kinder erziehen möchten. Wir lernten die Gründer der Scuola Vivante in der Schweiz kennen und freundeten uns mit ihnen an. In ihre vielseitige und humane Pädagogik haben wir uns sofort verliebt.
Dies war der Beginn unserer erfolgreichen Partnerschaft und der abenteuerlichen Gründung unserer Schule im Hohen Atlas Marokkos.
Zunächst planten wir lediglich einen Kindergarten/eine Kinderkrippe. Doch als sich diese so gut entwickelte, beschlossen wir, den immensen Bedarf eines Bildungsprojektes in dieser ländlichen, abgelegenen Region zu stillen. Genauere Informationen zu unserer Geschichte sind auf unserer Webseite zu finden.
Das administrative Gründungsverfahren dauerte fast drei Jahre. Mangels finanzieller Mittel mussten wir zu Beginn zwei Zimmer unseres Hauses in Klassenzimmer umbauen. Heute sind es schon mehr als fünf Jahre, dass die école vivante Kinder aus dem ganzen Tal Ait Bouguemez in einem öffentlichen Gebäude empfängt.
Zurzeit bereiten sich unsere ältesten SchülerInnen auf die Abschlussprüfungen der Primarstufe vor und wir sind dabei, den Bau der Sekundarschule fertig zu stellen. Gemeinsam mit den SchülerInnen und ihren Eltern wollen wir den Weg der vielseitigen Ausbildung weitergehen. Dadurch sollen sich die Kinder voll und ganz entwickeln und ihre Talente bis zum Erlangen der Matur entfalten können.
Verwenden Sie andere Lernmethoden als die klassische Pädagogik?
Ja, absolut! Ein grosser Unterschied unserer Pädagogik ist der gewaltfreie Umgang auf allen Ebenen. Wir legen grossen Wert darauf, unsere Schüler weder mit körperlicher noch mit verbaler oder moralischer Gewalt zu bestrafen. Auch eine friedliche Kommunikation und der gegenseitige Dialog sind uns sehr wichtig. Wir appellieren an das Verständnis, die Verantwortung sowie die Eigenverantwortung eines jeden/einer jeden einzelnen. Wir befinden uns alle in einem ständigen Lernprozess. Die Arbeitsweise in den Klassen, der Unterricht, die (Lern-)Methoden unterscheiden sich stark von denjenigen, die man ausserhalb der école vivante kennt und anwendet.
Wir sind der Meinung, dass man nicht nur anhand von Büchern, Tafeln und Heften lernt. Deshalb stellen wir Verbindungen zwischen den verschiedenen Fächern her und versuchen das Gelernte auch praktisch umzusetzen, es mit der Realität, den Bedürfnissen und Interessen der SchülerInnen zu verbinden.
Wir folgen zwar dem offiziellen Lehrplan des Bildungsministeriums, doch wir erarbeiten die Inhalte mit unseren eigenen Methoden, immer in kleinen Lerngruppen und den individuellen Bedürfnissen der Kinder entsprechend. Täglich sind wir mit der grossen Herausforderung konfrontiert, dass die SchülerInnen zwar Berber als Muttersprache haben, der Unterricht aber auf Arabisch und Französisch stattfinden muss. Zwei Sprachen, welche für die meisten unserer Kinder Fremdsprachen sind. Wir halten somit Immersionsunterricht.
Weitere Elemente unserer Schule, unserer Pädagogik sowie die Grundsätze und Besonderheiten unserer Schule finden Sie direkt auf unserer Webseite.
Wie hoch sind die Schulkosten für die Kinder? Glauben Sie, dass einige Kinder dadurch an der Einschreibung gehindert werden?
Für jene Familien, welche die Mittel dazu haben, betragen die Schulkosten 250 Dhs (ca. CHF 25.-) pro Monat. Jedoch decken diese Gebühren nicht die effektiven Kosten von rund 1200 Dhs pro Monat pro Kind.
Über 20% unserer SchülerInnen stammen aus Familien, welche das Schulgeld nicht vermögen würden und deshalb nichts zahlen. Ihnen wird der Schulbesuch durch die von SpenderInnen aus Europa finanzierten Stipendien ermöglicht. Mit Sicherheit sind wir keine Schule lediglich für Kinder aus vermögendem Hause, sondern offen für alle. Wir sind ein Ort, welcher allen Interessierten neue Möglichkeiten bietet und der jenen, die bereit dazu sind, einen neuen Ausbildungsweg ermöglicht.
Ich möchte ebenfalls erwähnen, dass wir auch Kinder mit Hörbehinderung bei uns unterrichten. Sie werden in die regulären Klassen integriert. Mit Hilfe von europäischen SpezialistInnen lehren wir den betroffenen Kinder sowohl die Gebärdensprache als auch die Aussprache.
Mit welchen Argumenten überzeugen Sie Ihre SpenderInnen? Und welches glauben Sie, sind die Gründe, dass sie Ihre Schule unterstützen?
Die Bildung ist die Grundlage der künftigen Generation. Welche Investition also könnte wichtiger sein als jene in Bildung? Sie hilft jedem Kind einen seinen persönlichen Talenten entsprechenden Platz in dieser Welt zu finden, einen verantwortungsvollen Umgang mit der Mit- und Umwelt zu pflegen und die verschiedenen persönlichen Fähigkeiten zu nutzen.
Vor allem in der aktuellen politischen Situation, welche von der Instabilität arabischer Ländern und von der schlechten Zukunft der jungen Generationen geprägt ist, ist eine gute Ausbildung sehr wichtig. Eine Bildung, welche zur Selbstverantwortung anleitet und berufliche Zukunftsperspektiven öffnet, eine Bildung, welche den jungen Menschen die Chance gibt, ihren Platz zu finden und ihre Verpflichtungen gegenüber ihrem Heimatland zu übernehmen, anstatt als illegale Einwanderer nach Europa zu flüchten.
Erhalten Sie Subventionen oder andere Hilfe vom Staat? Insbesondere für die Transporte von SchülerInnen aus abgelegenen Dörfern?
Nein, bisher werden all unsere Kosten durch private Spenden beglichen.
Wir werden von Staat nicht unterstützt. Oft macht es uns Sorgen, wie wir die regelmässige Finanzierung und langfristige Entwicklung unseres Projektes sichern können.
Bevorzugen Sie Lehrkräfte aus der Region? Bilden Sie sie auch aus? Haben Sie Schwierigkeiten Lehrpersonen zu finden?
Ja, wir haben gerne Lehrpersonen aus der Region, denn diese kennen die Bedürfnisse, die Sitten sowie die Sprache der Kinder hier in den Bergen und sie sind sich das Leben hier gewohnt. Für StädterInnen ist dies oft sehr schwierig, insbesondere im Winter.
Wir bilden unsere LehrerInnen in der Pädagogik, der gewaltfreien Erziehung und all den anderen Bereichen der persönlichen Entwicklung stets weiter – wir lernen alle, ununterbrochen.
Manchmal haben wir Probleme, Personen mit dem notwendigen Wissen und Kompetenzen für höhere Niveaus in bestimmten Fächern zu finden. Ausserdem ist es schwierig freundschaftliche, herzliche Lehrpersonen zu finden, welche bereit sind, unsere humane Pädagogik zu leben und den SchülerInnen zuzuhören. Aber „Alhamdulillah“, bis jetzt haben wir immer Personal gefunden. Unser aktuelles Kollegium ist sehr fähig und kompetent, die Lehrkräfte stammen alle aus der Region, und PraktikantInnen und Volontärinnen aus Europa bereichern sie mit ihrem Wissen.
Organisieren Sie das Leben der Lehrpersonen ausserhalb der Schule? Haben Sie eine Strategie, mit welcher Sie es schaffen, die LehrerInnen an der Schule zu behalten?
Die école vivante ist eine Lernstätte für alle. Wir wissen, dass gute Arbeit nur unter guten Bedingungen, durch die persönliche Zufriedenheit und die Chance, sich selbst weiter zu entwickeln, geleistet werden kann. Deshalb versuchen wir, auf die professionellen wie auch persönlichen Bedürfnisse unserer Angestellten einzugehen.
Wir bieten einen guten Arbeitsplatz mit ausgezeichnetem Arbeitsmaterial und versuchen den Lehrpersonen das Leben durch Flexibilität zu erleichtern. Wir schaffen eine fröhliche Atmosphäre und freundschaftliche Beziehungen zwischen den Lehrpersonen. Die soziale Sicherheit versuchen wir durch gute Löhne zu garantieren. Unsere Angestellten haben alle die Chance zu lernen und sich (weiter-) zu bilden, um ihre Träume und Wünsche zu verwirklichen. Es gelingt uns sogar, ihnen Bildungsreisen nach Europa zu ermöglichen. Auf diesen Reisen sollen die Lehrkräfte einen professionellen Austausch erleben, um sich zu guten Vorbildern zu entwickeln und um aus dem Alltag das Beste herausholen können.
Was sind Ihre Ziele für die Zukunft?
Mit der Weiterentwicklung unseres Projektes fortzufahren und unsere Lernstätte lebendig, hell, austauschreich, respektvoll und friedlich zu gestalten. Einen Bildungscampus zu errichten, die Menschen des Tals hier zu versammeln, um ökologische Lösungen zu finden und noch mehr Angebote für alle BewohnerInnen dieses Tals, insbesondere aber für die Jungendlichen, zu offerieren.
Unser Wunsch ist es, möglichst vielen Menschen dieses Tals die Möglichkeit zu bieten, sich der Welt zu öffnen, während sie ihre Werte und Traditionen weiter pflegen. Wir wünschen uns ein Ort der Begegnung, der Bildung, der Förderung und der Entwicklung zu sein. Ein Ort, der sich auf Sitten und Traditionen des Tals und seiner Bewohner beruft. Ein Ort, der den interkulturellen Austausch fördert und sich der Welt mit ihren neuen Möglichkeiten öffnet.